Für meine Eltern
„Darf ich dich fragen: Wo kommst du her? Also, so wirklich?“
Wie oft ich diese Frage gehört habe, zermürbt mich
Da ich ahne, worauf du eigentlich hinaus willst
Überkommt mich unwillkürlich ein Fremdheitsgefühl
Aber weil du so nett gefragt hast, stehe ich dir gerne Frage und Antwort
In der Hoffnung, dass ich hier zugehöre und vielleicht auch dort
Zwischen Orient und Okzident ist mein Herz hin und her gerissen
Während die Erinnerung an die Heimat der Eltern verblassen
In der guten alten Zeit, damals, in Afghanistan/افغانستان
Dort sind meine Eltern geboren
Zwar in einer Monarchie, aber es ging einem el-humdil-Allah gut
Es gab keinen Grund für verblendeten Hass und blanke Wut
Wenn meine Eltern darüber sprechen, sind ihre Blicke ganz verklärt
Nahezu verliebt, wie einen Schatz, den man schützt und ehrt
Ein Bild, der so in der Vorstellung muss verharren
Eine Erinnerung, die sie in ihren Herzen verwahren
Dann werden ihre Blicke starr, Tränen fangen an zu rollen
Wie die Panzer, die plötzlich Kommunismus einführen wollen
Die eigenen Fahnen werden abgehangen, rote gehisst
Erst wenn man etwas verloren hat, merkt man, wie sehr man es vermisst
Es gab ein Putsch nach dem anderen, die Königsfamilie floh
Wie wir wissen, alle Wege führen nach Rom
Aber um das neue Gedankengut erfolgreich in Köpfe zu legen
müssen einige von denen rollen, auch um Angst zu hegen
Nach der ersten, starren Ohnmacht haben sich auch meine Eltern gewehrt
Demonstriert, Flugblätter verteilt, sich mit Reden bewährt
Sie wurden geschnappt und sahen auch Gefängnisse von innen
Eine Erinnerung, die bleibt, prägt und nicht verrinnt
Aber zu allem Überfluss musste sich auch die USA einklinken
Schließlich war man geübt, sich irgendwo immer einzubinden
Wenn man es den „Kalten Krieg“ nennt, wirkt es so fern, als würde dieser nicht existieren
Während die eigenen Truppen in den fernen Ländern einmarschieren
Und da man ohnehin auf einem Vermögen saß
Als Meister der Ausbeutung, ohne Skrupel und Maß
Wurden Mujaheddin mit Geld und Waffen versorgt, wie eine List
Schließlich heißt es: Des einen Freiheitskämpfer ist des anderen Terrorist
Weitere Menschen mussten ihr Leben lassen
Immer mehr Panzer, die rollen in den eigenen Gassen
Wo ist das Land, das man einst Heimat nannte?
Wohin die Geborgenheit, die man als Zuhause kannte?
Blanke Angst um das eigene Leben - ein schier unvorstellbarer Gedanke
Die ersten Nachbarn, die fliehen, dann auch ferne Verwandte
Aber es ist doch unser Land, sagen ihre verwirrten Blicke
Zum Abschied nur ein kurzes Winken und Zunicken
Man sitzt mit seiner Familie und schmiedet die Pläne
Wer flieht wohin, raus aus dieser Quarantäne
Eine flüchtige Umarmung, ein Kuss auf den Kopf
Wein nicht, bitte, pass auf dich auf
Eine Geschichte für sich, die Wege, die sie nahmen
Diese würde Seiten füllen, ein ganzes Buch vereinnahmen
Mit Burkas auf Pferden und unter Planen in Autos verließen sie das Land,
das für sie war einst als Heimat bekannt
Mit geklauten Kalaschnikows und geschenkten Minen
Kämpften die BürgerInnen vor Ort zum Brechen und Biegen
Zeitgleich wurden in pakistanischen Schulen die wohl „einzige“ Auslegung des Qurans gelehrt
Für verblendete Analphabeten war dadurch eine andere Sicht komplett verwehrt
Nach und nach wurde das Land zurückgewonnen
Aber nicht das, das man als Heimat nannte, nein, das war zerronnen
Zwischen den Händen - und in den Köpfen herrschte ein verwirrter Zustand
Ein neues Zuhause wurde geschaffen, das einen verband
Wieder Panzer, die rollen, nur mit anderen Gesichtern
Welche bald das Land regieren sollten, als Henker und Richter
Von den Bildern des Kampfes jedoch völlig traumatisiert
von dem Hass gegen den Westen, der als das einzig Böse existiert
Eine Talibanherrschaft, ein unwirkliches Bild, dennoch schwer daran zu rütteln
Meine Eltern, die traurig und stumm ihre Köpfe schütteln
Während Frauen mit Burkas in Arenas für Ehebruch gesteinigt werden
harren mutige BürgerInnen aus und sammeln die Scherben
11.09.2001 – wie kann ein Datum eigentlich so eine Aussagekraft haben?
Nichtsdestotrotz, ganz klar, es sind die Männer um Osama bin Laden
Die nur so ein Leid verursachen können
und sitzen in der Hochburg der Taliban
Wieder Panzer, die rollen, wieder mit anderen Gesichtern
Zu Teilen auch bekannt aus anderen Geschichten
Dieses zwanghafte Bedürfnis, Demokratie in fernen Ländern einzutrichtern
Während man Pipelines verlegt und Bodenschätze sichert
Es ist schon fast eine Gabe, eine Infrastruktur aufzubauen
kombiniert mit der Abhängigkeit, worauf die Menschen vertrauen
Nicht so stabil, dass man ab hier selbst übernehmen könnte
Nicht so schwach, dass man sich endlich das ein oder andere gönnte
Aber ein Hoffnungsschimmer ist dennoch zu sehen
Wenn Frauen und Mädchen zur Schule und Uni gehen
Nicht gefangen in Burkas, sondern in freieren Hijabs
Wahlen waren möglich, RichterInnen realistische Jobs
Zwar gab es auch Anschläge, aber man war abgeklärt
Schließlich war Kabul der halbwegs sichere Ort, den man schützt und ehrt
Während BürgerInnen ihre Opiumfelder an die USA verpachten
Hört man endlich wieder Musik in Bazaren, lautes Menschenlachen
Auch wenn die Präsidenten bislang nur Marionetten waren
Konnte man sich dennoch zumindest einer gewissen Ruhe verwahren
Ein Alltag, der sich einstellt, eine Freiheit, der man sich gibt
Vielleicht kann man diese noch etwas genießen, zumindest noch ein kleines Stück
11.09.2021 – wieder ein Datum mit unfassbarer Aussagekraft
Eine plötzliche Erkenntnis des Westens, was man hier eigentlich macht
Nach zwanzig Jahren Besetzung packt einen also plötzlich die Ungeduld
Mitten in den Verhandlungen wird also alles nochmals aufgewühlt
Hals über Kopf, die Beine in der Hand
die Präsidentenfamilie floh, Ortskräfte verbannt
Die Taliban, eine unfassbar geduldige Gruppe,
Haben letztlich darauf gewartet, auf den Abzug der Truppen
Nach und nach wurde vermeintlich das Land zurückgewonnen
Aber nicht das, das man als Heimat nannte, das war zerronnen
Zwischen den Händen - und in den Köpfen herrschte ein verwirrter Zustand
Ein neues Zuhause wurde geschaffen, das einen verband
Wieder Panzer, die rollen, nur mit anderen Gesichtern
Welche wieder das Land regieren sollen, als Henker und Richter
Von den Bildern des Kampfes jedoch völlig traumatisiert
von dem Hass gegen den Westen, der als das einzig Böse existiert
Die eigenen Fahnen werden abgehangen, weiße gehisst
Erst wenn man etwas verloren hat, merkt man, wie sehr man es vermisst
Eine Talibanherrschaft, ein unwirkliches Bild, dennoch schwer daran zu rütteln
Wieder meine Eltern, die enttäuscht ihre Köpfe schütteln
Laute Schüsse in die Luft, „Allahu akbar“-Rufe, die verhallen
Während sich BürgerInnen verzweifelt an Flugzeuge festkrallen
Eine Generation, die nichts anders kannte als Krieg
Demgegenüber der Westen, der seine Schuld immer weiter wegschiebt
Hals über Kopf, die Beine in der Hand
scharen Menschen am Flughafen, geben ihre eigenen Kinder über Maschendrähte aus der Hand
Panzer und Tränen, die kommen und wieder rollen
Der Westen, der sagt: „2015 darf sich nicht wiederholen“
Wäre es nicht Realität, wäre es ein zynisches Schauspiel
Während für die einen das Leben am seidenen Faden hängt, ist es den anderen zu viel
Einfach mal in den Spiegel zu schauen und Farbe zu bekennen
Und sich nicht in das Blaming-Game zu verrennen
Blanke Angst um das eigene Leben - ein schier unvorstellbarer Gedanke
Aber, aber „2015 darf sich nicht wiederholen“ – ja, Herr Laschet, wir haben es verstanden
Wiederum: wie gelingen Abschiebungen so fix und unkompliziert
Während eine deutsche Maschine nur sieben Menschen einquartiert?
Ich kann nur den Kopf schütteln, deshalb sage ich es dir in meiner Muttersprache:
Das Grundgesetz ist als Gegenstück zur NS-Zeit geboren, nicht als Rache
Die Würde des Menschen ist unantastbar und kennt keine Grenzen
Ob es nun deutsche Ortskräfte sind oder afghanische Menschen
Deshalb fühle ich mich meinen Eltern gegenüber verpflichtet
Diesen Text für die Bundesregierung zu dichten:
Luftbrücke jetzt, alle gefährdeten Menschen retten
Danach können wir uns auch wieder in unsere geliebte Bürokratie einbetten
Als Teil der Seebrücke rufe ich: „leave no one behind“
Menschenwürde grenzenlos, Solidarität mit Afghanistan/افغانستان
Ich bin gerührt von eurer Aufmerksamkeit und es sind auch Tränen der Dankbarkeit, die rollen
Da wir nur ein Stückchen Menschlichkeit für alle wollen.
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